Manche Dinge dauern ja einfach etwas länger in Deutschland. Und manchmal kommen sie auch nie. Dazu zählen bargeldloses Bezahlen, flächendeckende WLAN-Abdeckung oder auch die Übersetzung von Büchern, Filmen und Serien. Deutschland scheint in allem immer ein bisschen herzuhinken. Sowohl was die Qualität angeht (über die Übersetzung von Fernsehserien wollte ich immer einmal einen Beitrag verfassen, denn das beschäftigt und ärgert mich schon seit Jahren. Irgendwann kommt dieser Beitrag auch. Bestimmt.), wie auch was die Zeitschiene angeht. Ich erinnere mich, dass es in den 90ern und den 00er Jahren zum Teil ein halbes bis ein ganzes Jahr gedauert hat bis Kinofilme, Bücher und TV-Serien übersetzt vorlagen und dann endlich auch hier gezeigt wurden. Diese Zeitverzögerung war ein Grund dafür, dass ich angefangen habe, Dinge in ihrer Originalsprache (Englisch) zu lesen.
Der Hoffmann und Campe Verlag hat nun Alessandro Bariccos Buch „Die Barbaren“ im letzten Jahr herausgebracht. Das Original erschien bereits 2006, vor 12 Jahren (!) in Italien. Das Übersetzungs- und Lizenzgeschäft ist kein Einfaches, das ist mir klar, aber 12 Jahre später? Das ist mehr als ein Jahrzehnt. Ich bin trotzdem froh, dass Hoffmann und Campe, das Buch ins Deutsche übersetzt haben. Denn es ist ein sehr interessantes Buch. Und mein Italienisch reicht vielleicht gerade für die nächste Pizzabestellung, aber nicht für diese wunderbaren Texte.
Aber fangen wir vorne an.
Alessandro Baricco wurde 1958 in Turin geboren. Er studierte Philosophie und Musikwissenschaften. Er schreibt Romane, Essays, Erzählungen und Theaterstücke und ist außerdem auch noch Journalist. Er ist ein Mann der Sprache durch und durch. Und das merkt man. Er liebt die Sprache und das Vergnügen am Formulieren; das kommt in seinen Texten sehr schön zutage.
Alessandro Baricco, Die Barbaren, Hoffmann und Campe Verlag. Ich habe sehr viele Post-its verwendet. Ein sehr gutes Zeichen!
„Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur“ ist eine Abfolge von 30 Essays, die zwischen Mai und Oktober 2006 in der Zeitung La Repubblica erschienen sind. In seinem einseitigen Vorwort zur Veröffentlichung des Buches dieser Essays erklärt Baricco: „Wenn ich vorgehabt hätte, ein normales Sachbuch zu schreiben, hätte ich wahrscheinlich eine andere Sprache benutzt, hätte mehr argumentiert, mehr reflektiert, und da ich die Möglichkeit gehabt hätte, nachträglich zu korrigieren, hätte ich den Aufbau des Gedankengangs sorgfältiger gestaltet. Aber ich hatte Lust zu dieser Art Live-Arbeit vor den Augen der Leser, bei der es mir eher auf die Notwendigkeit des Denkens ankam als auf die Besonnenheit, die für eine Veröffentlichung nötig ist.“ (S. 5)
Und das ist der Ton des gesamten Buches. Immer denkend, häufig humorvoll und immer wieder auch reflektierend. Von dieser ersten Seite an, betrachtet Baricco dann das Wörtchen Kultur und alles was damit zusammenhängt. Ein Schwerpunkt liegt vor allem auch auf der Musik. Als gelernter Musikwissenschaftler ist das nur verständlich und nahe liegend. Das Spannende, das er in seinen Essays ausarbeitet ist, dass es schon immer die Beschwerde der Etablierten, der Jetzigen, der Alten gab, dass die Jugend und die Generationen nach ihnen keine „Kultur“ hätten. Sie würden sich zu Barbaren entwickeln und keine Ahnung davon haben, was Kultur wirklich bedeutet. Eine sehr interessante Beobachtung, die durchaus stimmt.
Schauen wir uns in unserem eigenen Umfeld um, in dem Umfeld unserer Eltern und Großeltern. Der Satz „Früher war alles besser“ oder auch „Die Jugend von heute…“, verbunden mit einem abwertenden Kopfschütteln, haben wir alle schon einmal gehört. Und jede Generation denkt von sich, sie macht es besser wie alle vor ihr und alle die nach ihr kommen, haben keinerlei Ahnung. Sie sind Barbaren.
Alessandro Baricco schaut sich diese Haltung einmal genauer an und belegt sehr schön, wie sich diese Gedanken einmal quer durch unsere Geschichte ziehen, von der Antike bis in die Gegenwart. Um das ganze anschaulich zu halten – denn immerhin sind seine Texte ja kein Sachbuch, sondern Folgen in der italienischen Zeitung La Repubblica – nimmt er konkrete heutige Beispiele in den Fokus: Wein, Fußball, Bücher, klassische Musik, Kino. Jeder dieser Bereiche hat inzwischen die unterschiedlichsten Fans. Es gibt die „Weinkenner“ die mit Verachtung auf die Discount-Weinkäufer heruntersehen und diese Barbaren schimpfen. Das gleiche gilt für die anderen Bereiche. Bei vielem kommt inzwischen die Digitalität noch hinzu und sorgt ebenfalls für Streitthemen. Die Diskussion zwischen Buch und Ebook hat die Buchbranche lange Zeit in Atem gehalten – wieder einmal sehr zeitverzögert, im Vergleich zu manch anderen Ländern.
Wie verändert sich das Denken? Wie verändern sich die Menschen? Wie verändert sich ihr Verhalten? Oder verändert es sich vielleicht gar nicht? Und die jungen Revolutionäre von heute sind die auf dem Alten beharrenden Meckerer von morgen? Befinden wir uns in einem ewigen Kreis, aus dem wir nicht ausbrechen können?
Baricco stellt viele Fragen und gibt anschauliche Beispiele. Er will die Menschheit verstehen lernen. Und das Mittel seiner Wahl ist „schreibend zu denken“ (S. 7). Eine sehr sympathische Herangehensweise.
Sympathisch finde ich auch, dass er weder die eine Seite noch die andere Seite verteufelt. Er schildert vielmehr amüsiert die Ambivalenz des ganzen und das durchaus das heute Barbarische morgen schon zum Altbewährten werden kann. Die Menschheit ändert sich und gleichzeitig wendet sie trotzdem noch ihre altbekannten Muster an. Baricco wagt auch keine Zukunftsphantastereien, sondern blickt vielmehr interessiert und mit einem humorvollen Auge auf die Zeiten, die kommen werden. Auf Google, das Internet, den Journalismus und alles was vielleicht noch entstehen wird.
Es machte Spaß das Buch zu lesen und auf seine merkwürdige Art und Weise und seinem Thema an sich, ist das Buch sogar ein klein wenig zeitlos. Von daher ist es wirklich nicht so schlimm, dass es erst 12 Jahre später ins Deutsche übersetzt wurde. Ich bin nur froh, dass es überhaupt übersetzt wurde. Denn keine Sorge, für den Nachschub an Barbaren ist immer gesorgt. Wir haben immer noch unsere neuen Barbaren, sie nehmen jedes Mal neue Formen an und wir haben auch weiterhin unsere bestehenden Traditionen und Vorstellungen. Das Rad der Barbarei dreht sich somit endlos weiter. Es hat aber auch etwas Beruhigendes in dieser ewigen Weiterentwicklung.
// Alessandro Baricco, Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Hoffmann und Campe 2018. 224 Seiten, ISBN 978-3-455-40580-4.