William E. Glassley, Eine wildere Zeit

William E. Glassley, Eine wildere Zeit
Cover von William E. Glassley, Eine wildere Zeit
William E. Glassley, Eine wildere Zeit, Kunstmann Verlag.

Ich liebe das Programm des Verlages Ante Kunstmann. Sie bringen nicht nur tolle inhaltliche Bücher heraus, ihre Bücher sind auch vom Äußeren immer ein kleines Kleinod. Sie fühlen sich gut in der Hand an, das Layout ist schön und die Cover sind immer passend gewählt. Es gibt absolut nichts zu meckern. Mit Sicherheit denkt ihr jetzt, und wo ist der Haken? Kommt da ein Aber?

Nein, ich muss euch enttäuschen. Es kommt kein Aber und es gibt keinen Haken. Dadurch, dass ich dem Kunstmann-Verlag so sehr vertraue, greife ich auch mal zu Büchern, die völlig abwegig sind und so gar nicht in meine Interessensgebiete hineinpassen. Wie etwa das Buch „Eine wildere Zeit. Aufzeichnungen eines Geologen vom Rande des Grönland-Eises“ von William E. Glassley. Der Untertitel ist bezeichnender, als ich es gedacht hätte. Doch dazu gleich.

Mit Geologie habe ich mich aktiv noch nie wirklich beschäftigt und Grönland ist diese Landmasse oben im Norden, von der ich weiß, dass sie existiert, die aber in meinem Kopf eine große weiße Fläche ausmacht und auch mit ihr habe ich mich noch nie wirklich beschäftigt. Als ich dieses Buch nun im Programm des Kunstmann-Verlages sah und der Deckeltext begann mit „Grönland ist einer der letzten wahrhaft wilden Orte der Erde“, hat es mich unweigerlich angesprochen. Ich war fasziniert ohne genaueres zu wissen.

Also sprang ich in das (Lese-)Abenteuer und entdeckte mit Glassley die Tiefen und Vielfältigkeiten der Geologie in Grönland.

William E. Glassley ist Geologe an der University of California, Davis. Noch so ein unbekannter Ort für mich. Aber genau dafür sind Bücher ja auch gut, dass man Unbekanntes entdeckt und es einen vielleicht neugierig macht. Glassley ist mit zwei Kollegen in Grönland auf Expeditionen unterwegs gewesen. Sie wollten eine These beweisen, die heftig umstritten ist. Es ging um die These, dass Grönland vor langer langer Zeit aus der Kollision zweier Kontinente entstanden ist. Heftig umstritten in der Wissenschaft bedeutet, man beschimpft sich mit Worten und sehr langen umständlichen Sätzen in wissenschaftlichen Artikeln. Daher schwante mir Übles, als ich an der Stelle ankam. Wissenschaftliche Streitigkeiten sind immer anstrengend, erst recht, wenn man sie lesen muss. Ich kenne das aus dem Bereich der Archäologie und da sind Fehden immer sehr langatmig und gehen manchmal über Jahrzehnte. Doch zurück zum Thema.

Ich habe wie schon gesagt keinerlei Ahnung von Geologie und werde auch die These nicht bewerten. Aber ich war erstens überrascht, wie klar und einfach Glassley geschrieben hat. Keine Sicht von verschwurbeltem Wissenschaftsblabla. Das Buch ist eine Mischung aus Expeditionsbericht, privaten Aufzeichnungen der Reisen und Autobiographie. Sie verschwimmen schon fast literarisch ineinander, verlieren dabei aber nichts von ihrer Klarheit. Es lässt sich sehr flüssig lesen. Ich konnte seinen Gedanken gut folgen und die schiere Einsamkeit mit ihrer gleichzeitigen Belebtheit der Natur kam sehr lebendig rüber.

Es ist ein sehr persönlicher Erfahrungsbericht und ich folgte dem Autor gerne in die Fjorde und las begeistert über Gesteinsschichten (wer hätte das nur gedacht). Immer wieder kommen auch philosophisch angehauchte Abschnitte vor, die einen inne halten lassen:

„Alles, was wir erleben, ist eigentlich immer nur abgewandelte Realität, ein eingefärbtes Bruchstück der Wirklichkeit.“ (S. 96)

„Sind also alle unsere Erfahrungen nur relativ? Ist alles, worüber ich nachdenke oder mich wundere, nichts als eine Collage aus bereits Gesehenem und Empfundenem? Wenn das stimmt, dann schränkt die Vergangenheit auch meine Vorstellungskraft ein. Genau darum sind neue Erfahrungen, die nicht zu unseren Erinnerungen passen, ein Geschenk. Sie bereichern die Schatztruhe, aus deren gesammelten Farben, Geräuschen, Gerüchen, Gefühlen und tieferen Bedeutungen wir uns bedienen. Neue Erlebnisse machen künftige Erfahrungen reicher und schöner. Wildnis ist eine neue Erfahrung.“ (S. 97)

Von einer Beobachtung ganz nah auf dem grönländischen Boden, Glassley liegt praktisch auf dem Moos und beobachtet Hummeln und anderes Kleingetier, kommt er auf eine Grundsatzaufgabe der Wissenschaft: Sie soll anregen und neugierig machen. Sie soll den Horizont erweitern.

„Offenbar spielt die Körpergröße doch eine Rolle. Die Welt ist nicht für uns allein gemacht. Wir besiedeln und erleben nur einen winzigen Teil von ihr. Evolutionär sind wir mehr oder weniger optimal an einen Raum angepasst, der etwa zwei Meter hoch und einen Meter breit ist. Da kennen wir uns aus. Andere Welten sind uns dagegen fremd: das Gewirr aus Tundrapflanzen und durchnässten Böden, der Formenkomplex unter dem Watt oder die chaotischen Luftströme, die den Falken tragen. Doch wenn wir diesen Welten keine Beachtung schenken, verkümmern und verdummen wir.

Die Wissenschaft kann uns einen gewissen Zugang dazu verschaffen, weil sie versucht, unter die sichtbare Oberfläche zu schauen und zu beschreiben, was sie dort entdeckt. Ehrgeizig, wie sie ist, hat sie uns gezeigt, dass es in allen Welten gleich welcher Größe Dinge gibt, die wir uns in unseren kühnsten Träumen nicht vorstellen könnten.

Aber sie kann nicht ersetzen, was der Mensch in solchen Welten erlebt, und auch nicht erklären, warum wir andere Welten überhaupt verstehen wollen. Unsere Neugier wird durch die sachliche, faktenreiche Beschreibung solcher Orte nur noch größer, und zugleich bleibt unsere unersättliche Neugier eins der größten Rätsel der Menschheit.“ (S. 126)

Und das hat dieses Buch geschafft. Es hat mich neugierig auf ganz andere Dinge gemacht: Geologie, Moos, Grönland und vieles mehr. Es hat mich aber wieder erneut zu der Frage gebracht, gibt es eigentlich deutsche Wissenschaftler, die so schreiben können? Die diesen Stil zwischen autobiographischem Schreiben und Wissensvermittlung so locker verbinden können, wie wir es bei den englischen oder amerikanischen Kollegen erleben? Diese Frage stelle ich mir seit meinem Studium und ich habe bisher noch keine guten Beispiele gefunden. Die deutsche Wissenschaftssprache ist eine Wissenschaft für sich selbst. Und sogar in der Germanistik ist sie sperrig, schwierig und langatmig. Kein Wunder also, dass ich so oft nach Sachbüchern aus anderen Ländern greife. Dieses war eine Freude und ich bin schon gespannt, was das nächste Herbstprogramm des Kunstmann-Verlages zu bieten hat.

 

// William E. Glassley, Eine wildere Zeit. Aufzeichnungen eines Geologen vom Rande des Grönland-Eises. Antje Kunstmann Verlag 2018, ISBN 978-3-95614-258-1, 224 Seiten.

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